Der Grossrat des Kantons Bern hat am Donnerstag mit 76:69 Stimmen entschieden, dass die Gemeinden kein Stimmrecht für alle auf kommunaler Ebene einführen können. Was hat dieser Entscheid bei dir ausgelöst?
Ich war sehr hoffnungsvoll, als ich hörte, dass den Gemeinden des Kantons Bern das Recht eingeräumt werden könnte, das kommunale Stimm- und Wahlrecht auf Ausländer*innen auszuweiten. Dies wäre zweifellos eine große Errungenschaft in Richtung Demokratisierung gewesen. Nicht nur für den Kanton Bern, sondern für die ganze Schweiz, da gerade in der Deutschschweiz nur wenige Kantone politische Rechte für Ausländer*innen kennen.
Weshalb denkst du, dass immer noch viele Stimmbürger*innen und Politiker*innen gegen ein Stimmrecht für alle auf kommunaler Ebene sind?
Die Hauptargumente jener Politiker*innen, die sich dem Vorstoss für ein Ausländerstimmrecht widersetzen, sind, dass Ausländer*innen sich erst gut integrieren, die Schweizer Staatsbürgerschaft erwerben und erst nachher politische Rechte ausüben sollen. Das heisst, politische Rechte für Ausländer*innen sollen nicht als Anreiz für eine aktive Teilnahme am politischen Leben des Landes dienen, sondern als Belohnung für eine gute Integration. Für mich ist dies jedoch nur ein Vorwand für Diskriminierung und den Ausschluss von Ausländer*innen aus dem aktiven Leben. Die Einschränkung ihrer Möglichkeiten verhindert eine bessere Integration in die Gesellschaft. Wie kann ich zum Beispiel ein Interesse daran haben, aktiv am Leben des Landes teilzunehmen, wenn ich gleichzeitig nicht einmal eine Stimme in meinem Quartier habe? Werde ich den Wunsch haben, nach so vielen Jahren der Diskriminierung und Ausgrenzung die Staatsbürgerschaft dieses Landes zu erhalten sowie aktiv am Leben der Gesellschaft teilzunehmen?
Wir müssen immer wieder beweisen, dass wir es wert sind, mit den Schweizer*innen in derselben Reihe stehen zu können
Wenn wir davon ausgehen, dass politische Rechte keine Anreize für eine bessere Integration sein sollten, welche anderen Anreize oder Chancen schafft dieser Staat dann für uns? Wenn wir uns die Migrationspolitik des Landes in den letzten Jahren anschauen, sehen wir überall die gleiche Logik, es gibt keine Rechte ohne Pflichten. Um die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie andere Leute zu haben, müssen Ausländer*innen über einen langen Zeitraum große Anstrengungen unternehmen und gleichzeitig so schnell wie möglich den höchsten Integrationsgrad nach Schweizer Standards nachweisen. Oder anders ausgedrückt, wir müssen immer wieder beweisen, dass wir es wert sind, mit den Schweizer*innen in derselben Reihe stehen zu können.
Integration ist ein gutes Stichwort. Wie interpretierst du, was die offizielle Schweiz unter diesem Begriff versteht?
Wenn wir uns das neue Ausländer-und Integrationsgesetz (AIG) ansehen, können wir nur eine Schlussfolgerung darüber ziehen, was Integration in der Schweiz bedeutet: Eine Ausschluss von den sozialen Rechten. Das AIG interpretiert eine gute Integration so, dass Ausländer*innen in schwierigen Lebenssituationen nicht auf soziale Unterstützung angewiesen sind, selbst wenn sie viele Jahre wie die Schweizer*innen gearbeitet und Steuern gezahlt haben. Und hier stellt sich für mich die Frage, wie ich mich noch besser in diese unfaire Gesellschaft integrieren kann, wenn es so viele Hindernisse und Diskriminierungen gibt.
Was bedeutet es in einer Gemeinschaft zu leben, wo lediglich Menschen mit einem Schweizer Pass über Regeln bestimmen können, die dich gleichermassen und teilweise sogar stärker betreffen?
Ein Stimm- und Wahlrecht zu haben bedeutet für mich als Ausländerin dass ich akzeptiert und wahrgenommen werde. Aber wenn in dieser Gemeinschaft lediglich Personen mit einem Schweizer Pass über Regeln bestimmen, die mich oft sogar stärker betreffen, fühle ich mich trotz all meiner Bestrebungen, ein «würdiges» Mitglied der Gesellschaft zu werden, hier völlig unwichtig. Seltsamerweise bin ich als Ausländer*in gleichzeitig zentraler Gegenstand zahlreicher politischer Debatten in diesem Land. In der Schweiz machen viele Politiker*innen ein Riesenthema aus uns Ausländer*innen, aber wir selbst haben oft kein Recht, uns zu ihrer Politik zu äußern, die uns stets in ein schlechtes Licht rückt.
Glaubst du, dass wir ähnlich für ein Stimmrecht für alle kämpfen müssen wie die Schweizer Frauen für ihr Stimmrecht oder anders gefragt: Was muss jetzt passieren, damit wir dem Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft einen Schritt näher kommen?
Wenn wir Ausländer*innen heute ein derart wichtiges politisches Thema sind, warum werden wir dann nicht auch politisch aktiv und fordern unsere Rechte laut und deutlich ein? Ich glaube, dass wir viel von den Kämpfen für das Frauenstimmrecht in der Schweiz lernen können. In meinem ersten Heimatland, in Aserbaidschan haben Frauen 53 Jahre früher das Wahlrecht erhalten als Frauen in der Schweiz. In diesem ehemals sozialistischen Land haben Frauen eine breite Palette von Rechten auf dem Papier. Zum Beispiel kann eine Mutter in bestimmten Fällen bezahlten Urlaub nehmen, bis ihr Kind das Alter von drei Jahren erreicht hat. Allerdings ist Aserbaidschan seit fast 30 Jahren eine Diktatur und alle Entscheidungen sind manipuliert. In der Realität gibt es in diesem Land, in dem die Bevölkerung fast jener der Schweiz entspricht, mehr als Hunderttausend alleinerziehende Mütter, die ohne staatliche Unterstützung überleben müssen. Seit ich 18 Jahre alt und wahlberechtigte war, habe ich mich bemüht, dies zu ändern, damit mein Land zu einem Ort wird, an dem die Menschenrechte respektiert werden und Frauen ihren rechtmässigen Platz in der Gesellschaft erhalten. Aber Diktaturen können Freiheitskämpferinnen wie mich rücksichtslos unterdrücken, wenn sie westliche Länder wie die Schweiz sie unterstützen, indem sie mit ihnen Geschäfte machen. Deshalb lebe ich schon seit 5 Jahren als anerkannte Geflüchtete hier und arbeite als Journalistin im Exil. Die Ironie des Schicksals: wieder kann ich den Kurs meiner neuen Heimat nicht bestimmen. Ich möchte endlich gehört, wahrgenommen und respektiert werden und in einem demokratischen Land im wahrsten Sinne des Wortes leben. So wie ich mir die Schweiz zuvor vorgestellt hatte, bevor ich hier anfing zu leben. Ich sehe jedoch nicht nur schwar . Solange wir kämpfen, gibt es auch Hoffnung. Selbst eine knappe Ablehnung des SP-Vorstoss zum kommunalen Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen (mit 76 gegen 68 Stimmen) zeigt, dass nicht alles verloren ist. Wir müssen nur härter an einer gleichberechtigten Gesellschaft arbeiten.
Tahmina Taghiyeva ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Zudem engagiert sie sich bei «Wir alle sind Bern».
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