Es ist an der Zeit, über die Zukunft der Schweizer Demokratie zu sprechen. Die Publikation «Argumentarium für ein Neues Bürgerrecht» von INES lädt zu diesem Dialog ein und bieten euch Anregungen und Hintergrundinformationen. In kurzen Essays setzen sich Fachexpert*innen verschiedener Bereichen mit Aspekten des Bürgerrechts in der Schweiz auseinander. Auch Sarah Schilliger hat einen Beitrag verfasst. Sarah engagiert sich seit der Gründung vor sieben Jahren bei Wir alle sind Bern. In ihrem Essay betont sie, dass es bei der Auseinandersetzung um ein neues Bürgerrecht um viel mehr geht als «nur» um die Möglichkeit politischer Mitbestimmung. Genauso ist es ein verteilungspolitischer Kampf – um eine menschenwürdige Existenzsicherung als Grundrecht, das allen zusteht. Um inklusive statt exklusive Solidarität. Und damit um eine lebenswerte Zukunft, in der alle zählen.

Wer finanziell nicht eigenständig ist, soll nicht eingebürgert werden. Dieses Argument ist nicht nur ein gesellschaftlich weit verbreitetes Narrativ, es spiegelt auch die Rechtsrealität wider. Im revidierten Schweizer Bürgerrecht von 2018 wird die Einbürgerung an die Bedingung der «wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit» geknüpft. Personen, die in den letzten drei Jahren vor dem Einbürgerungsverfahren Sozialhilfe bezogen haben, gelten als wirtschaftlich nicht selbsttragend – ihnen wird folglich die Einbürgerung verweigert. Einige Kantone, darunter Bern, setzen sogar zehn Jahre ohne Sozialhilfebezug voraus. Obwohl das Gesetz Flexibilität für individuelle Situationen vorsieht, zeichnet die Rechtspraxis ein anderes Bild: So hat zum Beispiel das Bundesgericht 2019 einer alleinerziehenden Mutter, die seit über zwanzig Jahren in der Schweiz lebt und sich um ihren behinderten Sohn kümmert, die Einbürgerung verweigert.

Solcherart Grenzziehungen in der Demokratie, die der deutsche Soziologe Stephan Lessenich als Ausdruck einer «exklusiven Solidarität» bezeichnet, sind keineswegs neu, sondern dem nationalen Sozialstaat tief eingeschrieben. So erfahren Menschen ohne Schweizer Bürger*innenschaft, aber auch Frauen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten, vielfältige Ausschlüsse aus sozialen Sicherungssystemen. Dies hat sich in der Schweiz durch eine disziplinierende «Aktivierungspolitik» seit Mitte der 1990er Jahre noch weiter verschärft, wobei Rechte und soziale Sicherheit immer enger an eine «erfolgreiche» Teilnahme am Arbeitsmarkt geknüpft werden, sprich: «verdient» werden müssen. (Noch-)Nicht-Schweizer*innen kommen damit nur zum Privileg, als Bürger*in anerkannt zu werden, wenn sie nicht von Armut betroffen sind. Diese Politik impliziert, dass Armut ein selbstverschuldetes Scheitern, Resultat fehlender Anstrengung oder gar Ausdruck moralischer Schwäche sei – ein Verständnis, das durch rechtsautoritäre Polemiken zum Sozialhilfemissbrauch im letzten Jahrzehnt noch weiter vorangetrieben wurde.

Verschleiert wird durch diese Individualisierung von Armut, dass strukturelle Faktoren massgeblich entscheiden, wer welche Möglichkeiten hat, auf dem Arbeitsmarkt ein existenzsicherndes Einkommen erwirtschaften zu können. Wie die Forschung zu sozialen Ungleichheiten deutlich macht, sind Armut und Sozialhilfebezug nicht einfach individuelle Merkmale von Einzelpersonen, sondern eine prekäre Lebenslage, die durch das Zusammenspiel und die gegenseitige Verstärkung struktureller Ungleichheitsdimensionen zustande kommt. Dies zeigt einerseits ein Blick in die Sozialhilfestatistiken: So sind alleinerziehende Frauen, Kinder, ältere Menschen, Staatsangehörige aus nichteuropäischen Ländern, Geflüchtete und Personen ohne (anerkannten) Berufsabschluss deutlich häufiger auf Sozialhilfe angewiesen. Andererseits sprechen die neusten Zahlen zu Tieflöhnen eine klare Sprache: Nicht nur das Geschlecht, sondern vor allem der Aufenthaltsstatus spielt eine grosse Rolle, ob jemand als «Working Poor» mit nicht-existenzsichernden Löhnen konfrontiert ist. Dabei gilt: Je unsicherer der rechtliche Status einer Person, desto tiefer der Lohn. Während 7 Prozent der Schweizer Bürger*innen im Tieflohnsektor beschäftigt sind, beträgt dieser Anteil bei Menschen mit C-Ausweis 13 Prozent, mit B-Ausweis 20 Prozent und mit L-Ausweis sogar 28 Prozent. Wenn wir die Tieflohnproblematik nach Sektoren betrachten, zeigt sich in migrantisch und weiblich geprägten Berufsfeldern eine sehr hohe Betroffenheit (zum Beispiel Coiffure/Kosmetik 53%, Gastronomie 48%, Reinigung 48%). Dabei ist zu erwähnen, dass nicht nur die Sans-Papiers, sondern auch Beschäftigte in der Landwirtschaft und in Privathaushalten in dieser Statistik nicht erfasst sind. Migrantische Landarbeiter*innen und Live-in Betreuerinnen arbeiten unter Ausschluss vom Arbeitsgesetz nicht selten während 50 oder 60 Stunden pro Woche – zu Löhnen, die für ein Leben in der Schweiz kaum ausreichen. Es sind migrantische Arbeiter*innen – häufig beschäftigt in prekären DDD-Jobs (dirty, dangerous, demanding) und CCC-Jobs (caring, cooking, cleaning) –, die wesentlich zum täglichen Funktionieren der Gesellschaft beitragen. Sie wurden zwar während der Corona-Pandemie kurzzeitig als «systemrelevant» gefeiert, bleiben aber zynischerweise mit der Begründung der fehlenden «wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit» zahlreich vom Bürgerrecht ausgeschlossen.

Im öffentlichen Diskurs wird mit der Einbürgerung vor allem die Möglichkeit zu demokratischer Mitbestimmung in den Vordergrund gestellt. Wer mit Menschen ohne Schweizer Bürgerschaft spricht, die in prekären Arbeits- und Lebenssituationen sind, erfährt aber weitere, unmittelbar existenzielle Beweggründe: Für sie liegt das Versprechen einer Einbürgerung vor allem darin, ein dauerhaftes und unbedingtes Aufenthaltsrecht und ein Bündel an grundlegenden sozialen Rechten zugesprochen zu bekommen. Dies würde ihr Gefühl der sozialen Sicherheit massiv erhöhen. Ohne Bürgerschaftsstatus sind sie hingegen gezwungen, jeden noch so prekären Job anzunehmen, um keine Sozialhilfe beanspruchen zu müssen und damit der Gefahr zu entgehen, ihre (Kurz-)Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung nicht verlängert zu bekommen. Damit werden sie in einen Zustand versetzt, der disziplinierend wirkt und der die Ausbeutbarkeit massiv erhöht. Denn wer um jeden Preis auf die Einkünfte aus noch so schlecht bezahlten Jobs angewiesen ist, wird sich kaum gegen ausbeuterische und prekäre Arbeitsverhältnisse wehren. Durch die alltägliche Sorge um die Existenzsicherung verschlechtern sich zudem die Bildungschancen sowie die Möglichkeit, dass Frauen sich aus Partnerschaften lösen können, die von Gewalt geprägt sind.

Die Frage nach Bürger*innenschaft umfasst also die zentrale, menschenrechtliche Frage nach den Möglichkeiten, soziale Rechte und Arbeitsrechte einfordern zu können. Die heutige Bürgerrechtspraxis in der Schweiz setzt hingegen auf Entrechtung und ordnet den Schutz vor Ausbeutung und das Recht auf soziale Sicherheit einer ökonomischen Logik unter: Um die solidarische Umverteilung durch den Sozialstaat – und damit auch die Steuern für Reiche – möglichst tief zu halten, wird die Demokratie begrenzt. Nach dem kamerunischen Philosophen Achille Mbembe gilt bei sozialer Ungleichheit eine Kurzformel, die auch hier passt: «Die einen zählen, auf die anderen wird gezählt». Menschen, die über keinen Schweizer Pass verfügen, die überdurchschnittlich häufig in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind und «auf die gezählt wird», wenn es ums Putzen, Bauen und Versorgen der reichen Schweiz geht: Sie zählen nicht – jedenfalls nicht als Bürger*innen mit gleichen Rechten.

Die Demokratieinitiative wäre die Gelegenheit, dies zu ändern, indem Bürger*innenrechte ausgeweitet werden. Die vereinfachte Einbürgerung ist der wirksamste Schutz der sozialen Rechte, weil sie ein Schlüssel für das «Recht auf Rechte» im Sinn von Hannah Arendt bietet. Doch demokratiepolitische Fortschritte kommen nie von selbst. Die Ausweitung von Bürger*innenschaft ist ein stetiges, endloses Ringen um Beteiligung, Mitbestimmung, Berechtigung – und war seit jeher mit politischen Kämpfen verbunden: von der bürgerlichen Revolution über die Arbeiter*innenbewegung und die Bürgerrechtsbewegung bis hin zur feministischen Bewegung. Während in der Schweiz durch die massive feministische Streikbewegung in den letzten Jahren gleiche Rechte für alle Geschlechter und der Missstand der tieferen Frauenlöhne stark politisiert wurden, bleibt es um rassistische Diskriminierung im Sozialstaat und auf dem Arbeitsmarkt (zum Beispiel um die oben geschilderten Lohnungleichheiten zwischen Menschen mit und ohne Bürgerschaft) zurzeit jedoch ziemlich ruhig.

Wichtig wäre eine stärkere Verbindung von verschiedenen alltagsnahen, sozialen Kämpfen, in denen es um gleiche Rechte für alle geht. Eine historische Referenz für eine solche Mobilisierung zur Ausweitung von Bürger*innenrechten könnte die Mitenand-Bewegung sein, die sich ab Mitte der 1970er Jahre als breite Allianz von migrantischen Selbstorganisationen, Gewerkschaften und kirchliche Initiativen bildete – und die der Historiker Kijan Espahangizi jüngst durch seine Forschung wieder ins kollektive Gedächtnis gerufen hat. Wie damals geht es auch heute beim politischen Ringen um die Ausweitung von Bürger*innenschaft nicht nur um politische Teilhabe. Genauso ist es ein verteilungspolitischer Kampf – um eine menschenwürdige Existenzsicherung als Grundrecht, das allen zusteht. Um inklusive statt exklusiver Solidarität. Und damit um eine lebenswerte Zukunft, in der alle zählen.

Literaturhinweise:

Kijan Espahangizi: «Ein Civil Rights Movement in der Schweiz? Das vergessene Erbe der Mitenand-Bewegung in der Schweiz (1974–1990)», in: Institut Neue Schweiz Blog, September 2018. (https://institutneueschweiz.ch/En/Blog/178/Espahangizi_Mitenand)

Manuela Hugentobler und Barbara von Rütte: «Die sogenannte ‘intersektionelle’ Diskriminierung. Der Umgang Schweizer Gerichte mit dem Konzept der Intersektionalität am Beispiel des Einbürgerungsrechts», in: Cognitio 2022/LGS. (https://doi.org/10.5281/zenodo.6624083)

Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Ditzungen 2019.

Andreas Rieger und David Gallusser: 25 Jahre Mindestlohnkampagne der Schweizer Gewerkschaften. 1998 bis 2023, Bern 2023.

Sarah Schilliger arbeitet als Soziologin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (Universität Bern), wo die das internationale Forschungsprojekt «Enacting Citizenship and Solidarity From Below» leitet. Sie engagiert sich in «Wir alle sind Bern» und in der feministischen Bewegung.

Die vollständige Publikation ist hier zugänglich.

Argumente und Fakten zur Demokratieinitative sowie Unterschriftenbögen zum Herunterladen findest du hier.