Mit der Publikation der Vorstudie zur Berner City Card und mit seinem Beschluss für einen Projektierungskredit in der Höhe von 120’000 Franken bekräftigt der Gemeinderat sein Bekenntnis für eine Stadtbürger:innenschaft, die alle Einwohner:innen miteinschliesst. Damit anerkennt die Stadtregierung, dass der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und den städtischen Institutionen nicht für alle gleich ist und durch unterschiedliche Hürden erschwert wird. Für «Wir alle sind Bern» ist dies ein wichtiger Schritt zur Ermächtigung unserer Mitbürger:innen, ihre fundamentalen Rechte einzufordern und die Stadt mit Nachdruck in die Pflicht zu nehmen, den Schutz vor Einschränkung dieser Rechte zu garantieren.

Trotz dieses erfreulichen Bekenntnisses muss festgehalten werden, dass die Rahmenbedingungen auf anderen politischen Ebenen in vielen Aspekten nicht im Sinne einer progressiven Stadt sind. Seit Jahrzehnten werden Gesetze regelmässig verschärft, die ausschliesslich Menschen ohne Schweizer Pass betreffen. Die öffentliche Debatte auf nationaler und internationaler Ebene hat dazu geführt, dass sich in den staatlichen Institutionen eine maximal restriktive Kultur  etabliert hat. Diese Kultur hat sich problemlos in das «New Public Management» eingefügt, welches sich dem Dogma der Effizienz und der «Politik der leeren Kassen» verschrieben hat. Umso wichtiger ist es, dass städtische Institutionen ihre Spielräume nutzen können und der allgemeinen Tendenz der Abschottung und des Rassismus eine offene, solidarische Politik entgegensetzen.

In Bern hat mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung einen Migrationsvorsprung, und ein Viertel ist von politischen Prozessen ausgeschlossen . Angesichts der Tatsache, dass sich nur gut die Hälfte der Stimmberechtigten an Wahlen beteiligen, stellt sich die Frage, welche Interessen die institutionelle Politik überhaupt vertritt? Welche Politiken finden Eingang in den institutionellen Prozess, welche Diskursräume werden geöffnet und welche bleiben verschlossen? Es braucht dringend eine öffentliche Debatte darüber, wie sich unsere Demokratie weiterentwickeln kann und wie die Teilhabemöglichkeiten für die gesamte Stadtbevölkerung erweitert werden können.

Die City Card kann einen Beitrag leisten, eine solidarische Praxis in den städtischen Institutionen zu verankern und gleichzeitig die gesamte Stadtbevölkerung zu ermächtigen, ihre Rechte einzufordern. Alle Menschen, die zusammen an einem bestimmten Ort leben und dort am Alltag teilnehmen, sollen die gleichen sozialen und politischen Rechte, angstfreien Zugang zu städtischen Ressourcen und zu sozialer, politischer und kultureller Teilhabe haben – dies ist der Ausgangspunkt der Forderungen nach einer City Card. Im Umsetzungsprozess eröffnen sich einige Chancen, denn die City Card könnte…

  • … der hegemonialen Verdachtskultur eine Kultur der offenen Institutionen entgegenhalten..
  • … Ausgangspunkt sein für eine offensive Informationspolitik, welche die gesamte Stadtbevölkerung anspricht und intersektionale Bedürfnisse mitdenkt.
  • … die Stadtbevölkerung vor vorauseilendem Gehorsam der Verwaltung schützen, der insbesondere während Identitätsnachweisen und Meldeprozessen auftreten kann und der dem gesetzlichen Anspruch des Datenschutzes widerspricht. 
  • … übergeordnete und private Institutionen in die Verantwortung nehmen, den verfassungsmässigen Schutz der Menschenrechte ebenfalls zu garantieren.

Das Potenzial der Karte liegt aber bei weitem nicht nur auf Seiten der städtischen Verwaltung. Dies ist gerade deshalb wichtig, weil lediglich städtische Institutionen zur Anerkennung einer City Card verpflichtet werden können. Ein Grundpfeiler einer solidarischen Stadt ist neben einer inklusiven Praxis von städtischen Institutionen auch das breite und vielfältige zivilgesellschaftliche Engagement. Im Umsetzungsprozess der Karte sollte die Zivilgesellschaft eine aktive Rolle spielen können. Sollte man es wagen, die City Card auch als ein Demokratisierungsprojekt anzugehen, muss die Karte neue Teilhabemöglichkeiten schaffen. Als Beispiele können hier ein partizipatives Budget auf Quartiersebene angeführt werden, eine Bürger:innenmotion statt einer Partizipationsmotion, oder auch konsultative Abstimmungen für Stadtbewohner:innen ohne Stimm- und Wahlrecht.

Die Pandemie hat uns in den vergangenen zweieinhalb Jahren vor Augen geführt, wie wichtig der niederschwellige Zugang zu fundamentalen Dienstleistungen ist. Die Basis dafür ist das Vertrauen zu den Behörden, aber auch das Zugehörigkeitsgefühl zur Stadt Bern – wie das die Vorstudie deutlich gemacht hat. Wir fordern die Stadt Bern und insbesondere den Gemeinderat deshalb dazu auf, sich öffentlich und deutlich zu einer solidarischen Stadt zu bekennen und die City Card mit möglichst vielen Kompetenzen im Hinblick auf die soziale, politische und rechtliche Teilhabe aller Stadtbürger*innen – nicht “nur” Sans-Papiers – auszustatten.

Zudem liegt es an uns allen, den institutionellen Prozess zivilgesellschaftlich zu begleiten und die City Card von unten mitzugestalten! Wer die Vision einer solidarischen Stadt teilt, ist herzlich dazu eingeladen, sich in einer Arbeitsgruppe von “Wir alle sind Bern” einzubringen und sich für ein solidarisches Bern zu engagieren.