Wir alle sind Bern! Im Namen des Kollektivs steckt die Forderung nach einer Stadtbürger*innenschaft für alle, die da sind und noch kommen werden. Aus diesem Grund engagiert sich «Wir alle sind Bern» in der Kapitale für eine Ausweitung von Rechten und demokratischer Mitgestaltung. Ein neues Verständnis von Zugehörigkeit nimmt mit den Initiativen «CityCard» und «Café CosmoPolis» laufend Gestalt an.

«Dieser Artikel ist in gekürzter Version im «Contraste», der Zeitung für Selbstorganisation erschienen und dient als Einstimmung für das Stadtforum zur City Card am 26. Oktober

Montagabend in der «STUBE». Die Koordinationsgruppe von «Wir alle sind Bern» trifft sich nach einer längeren Sommerpause. Auf einmal ist diese Gruppe so heterogen zusammengesetzt, dass Hochdeutsch gesprochen wird. Da sich noch nicht alle kennen, beginnt die Sitzung mit einer Vorstellungsrunde. Teilnehmen können alle, die mitreden und mitmachen wollen. Diese Offenheit ist ein Trumpf des Kollektivs, verlangt aber gleichzeitig nach Strukturen, um informelle Hierarchien zu verhindern und echte Teilhabe zu ermöglichen. Bei der Initiative «Café CosmoPolis» klappt das ganz gut. Ende Monat wird die «STUBE» jeweils zu einem rassismus- und diskriminierungsfreien Raum, in dem Machtstrukturen verlernt werden sollen. Das Café CosmoPolis ist ein Ort der Zugehörigkeit, der Menschen ohne Wahlrecht eine Stimme und allen anderen die Möglichkeit gibt, mal zuzuhören und mit ihnen statt für sie, oder über sie zu reden. Es entwickelt sich eine gemeinsame Sprache und zahlreiche Ideen für ein selbstbestimmtes Zusammenleben aller.

Etwas anders sieht es bei der Arbeits­gruppe aus, die sich mit der komplexen Initiative einer CityCard auseinandersetzt. Offenheit und Partizipation sind hier mit Heraus­forderungen verbunden. Die Idee hinter der CityCard ist ein Ausweis für alle Bewohner*innen der Stadt nach dem Vorbild der Identitätskarte New Yorks (IDNYC). 2015 eingeführt, ermöglicht die «IDNYC» undokumentierten Migrant*innen den Zugang zu städtischen und privaten Dienst­leistungen, die das Vorzeigen eines Ausweises verlangen, und einen Schutz vor Polizeikontrollen.

Seit die Stadtregierung zu Beginn dieses Jahres die Idee einer CityCard in ihren Schwerpunkteplan Integration aufgenommen hat, besteht auch in Bern die Hoffnung, dass Sans-Papiers in Zukunft mehr Freiheit geniessen. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe erhoffen sich aber weit mehr. So erklärt Seraina, dass allein die Idee einer CityCard «einen neuen Spielraum eröffnet, wie wir über das Zusammenleben in der Stadt nachdenken können». Dass unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus alle den gleichen Ausweis haben können, kommt in einer Stadt, in der wegen der restriktiven Schweizer Gesetze ein Viertel als «Ausländer*innen» gelten, einer kleinen Revolution gleich. Statt Sans-Papiers, Ausländer*innen und Schweizer*innen wären mit einer CityCard alle Berner*innen.

Solidarität ist keine Einbahnstrasse

Die CityCard ist in erster Linie ein Zeichen der Solidarität mit Sans-Papiers, aber reicht diese Solidarität, damit auch Nicht-Sans-Papiers von ihr Gebrauch machen? Wenn eine Identitätskarte nur von Sans-Papiers benützt wird, enttarnt sie diese, statt sie zu schützen. Vergünstigungen im ÖV, in Hallenbädern, Bibliotheken, Museen, oder im Veloverleihsystem zielen in Richtung eines erleichterten Zugangs zu öffentlichen Gütern und könnten zur Idee eines Ausweises für alle beitragen. Zudem ist Solidarität keine Einbahnstrasse, sondern eine gegenseitige Unterstützung, die sich an gemeinsamen Werten orientiert. Aus diesem Grund erarbeitet «Wir alle sind Bern» Vorschläge, welche die Anliegen von Menschen aufnehmen, die ebenfalls stark in ihrer selbstbestimmten Lebensführung eingeschränkt sind. Es besteht die Idee, über die freie Auswahl des Geschlechts auf der CityCard ein Anliegen der LGBTQ-Community aufzunehmen. Ein Zugang zu Rechtsschutz in Wohn- und Arbeitsfragen könnte allen finanziell schlechter gestellten weiterhelfen und die Idee, die CityCard als Stimmrechts­ausweis in konsultativen Verfahren zu nutzen, würde der Migrations­bevölkerung mehr Mitspracherechte einräumen.

Ob diese Ideen und die CityCard als solche umgesetzt werden können, steht zurzeit noch in den Sternen. Vieles hängt von Detailfragen ab, die zurzeit in Gesprächen mit Behördenvertreter*innen geklärt werden. Für eine ausserparlamentarische Organisation wie «Wir alle sind Bern» ist diese Zusammenarbeit ein Seiltanz. Einerseits sind nur die Behörden in der Lage, einen anerkannten Identitätsausweis auszustellen, weshalb die affirmative Strategie und das Ausloten rechtlicher Spiel­räume durchaus Sinn ergibt. Andererseits erhalten die Diskussionen um die CityCard einen neuen Fokus, wie Julia erklärt. Dies, weil durch die Zusammenarbeit mit den Behörden «die Interessen der Stadtverwaltung – und unterschiedliche Interessen innerhalb dieser Verwaltung – in die Verhandlungen getragen werden».

Gespräche, mit Behörden, die hinter verschlossenen Türen stattfinden, erfordern Geheimhaltung und erschweren dadurch eine Teilhabe für alle, die mit­dis­kutieren und mitarbeiten wollen. Eine weitere Herausforderung für die Offenheit der Arbeitsgruppe bestand darin, dass der Fokus in dieser ersten Phase auf den Anliegen der Sans-Papiers lag. Da zahlreiche Fragen rund um die rechtliche Umsetzung dieser Anliegen durch eine City Card geklärt werden mussten, waren in der Arbeitsgruppe fast ausschliesslich Leute dabei, die gleichzeitig bei der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers aktiv sind. In der jetzigen Phase des Projekts steht allerdings eine Öffnung der Arbeitsgruppe und Partizipation an. Geplant ist ein Stadtforum zur CityCard in Berns Westen, um die Anliegen und Perspektiven der stark durch Migration geprägten Quartierbevölkerung aufzunehmen. An der Organisation des Stadtforums beteiligt sich auch die quartierlokale Mitwirkungsplattform «Miau-Q». Zusammen soll die Diskussion angeregt werden, wie ein Ausweis für alle ausgestaltet sein soll und wie wir unser Zusammenleben in Zukunft gemeinsam gestalten wollen.

Das Ziel nicht aus den Augen verlieren

Auch in Zürich laufen Bestrebungen, eine städtische Identitätskarte für alle Bewohner*innen einzuführen. Diesen Bestrebungen hat die Stadtzürcher Regierung an ihrer Pressekonferenz am 12. September jedoch einen Dämpfer verpasst. Die Stadtregierung hat sich aufgrund rechtlicher Bedenken ablehnend zur Idee einer City Card geäussert, da eine City Card Konflikte zu kantonalem und nationalem Recht schaffe, die Stadt dieses Recht jedoch vollziehen müsse. Aus der Sicht von «Wir alle sind Bern» ist diese Einschätzung der Stadtzürcher Regierung zwar bedauerlich, hat jedoch keine direkten Auswirkungen auf die eigenen Bestrebungen, eine City Card einzuführen. Im Gegensatz zu Zürich verfügt Bern über keine Stadtpolizei, weshalb von Anfang an klar war, dass in Bern ein anderer Weg eingeschlagen werden muss. Darüber hinaus ist die rechtliche Umsetzung hoch komplex und auch in Zürich ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Entscheidend ist aber vor allem, dass abgesehen vom rechtlichen Spielraum, der politische Wille entscheidend ist, alle Bewohner*innen zu schützen, und der scheint in Bern zurzeit vorhanden zu sein.

Angesichts einer affirmativen Strategie und einer Zusammenarbeit mit den Behörden das transformative Ideal einer Solidarischen Stadt, den partizipativen Ansatz und das ausserparlamentarische Selbstverständnis von «Wir alle sind Bern» nicht aus den Augen zu verlieren, bleibt für das Kollektiv jedoch eine ständige Herausforderung. Isabel, die in der Vorstellungsrunde gesagt hat, «sie müsse frech werden, wenn es ungerecht zu und her geht» drückt es so aus: «Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist ein Tanz, aber wir müssen aufpassen, dass wir den Takt angeben».